Spezial DFB Pokal
Lars Ries, 10.08.2015
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Jubelstürme im Paradies
DFB-POKAL Regionalligist Carl Zeiss Jena wirft sensationell den Hamburger SV aus dem Wettbewerb. Gäste-Coach Bruno Labbadia: "Wir haben verdient verloren."
JENA/SID/DPA/MZ - Der Gesang, den die Fans des FC Carl Zeiss Jena schon während der ersten Halbzeit anstimmten, sagte eigentlich alles: "Erste Liga, keiner weiß warum", schmetterten sie dem Pokal-Kontrahenten aus der Bundesliga entgegen. Völlig zurecht. Fast-Absteiger Hamburger SV präsentierte sich eine Woche vor dem Liga-Start in desolater Form. Die Folge: Viertligist Jena siegte in einem denkwürdigen Erstrunden-Duell verdient mit 3:2 - nach dreimaliger Führung und nach Verlängerung.
"Ich kann das gar nicht in Worte fassen. Ich glaube, wir haben ganz Jena stolz gemacht. Wir haben verdient gewonnen", jubelte Kicker Marcel Bär. Und sein Trainer Volkan Uluc meinte nicht minder euphorisch: "Man träumt immer von einem Fußball-Märchen."
Labbadia ist entsetzt
Nach dem Abpfiff waren die Schmähgesänge nicht mehr gefragt. Das rustikale Abbe-Sportfeld geriet zum Party-Ort. Allerdings nicht im und vor dem HSV-Fanblock. Dort tickten wütende Anhänger aus, bewarfen Ordner mit Gegenständen, versuchten in den Innenraum zu gelangen - und wurden von der Polizei gestoppt. "Das ist eine große Enttäuschung für uns, denn das hat sich für uns im Vorfeld nicht so abgezeichnet", sagte HSV-Trainer Bruno Labbadia. "Wir sind nicht an die Grenze gegangen und haben verdient verloren. Es schien nicht der unbedingte Wille dagewesen zu sein. Jeder hatte zu viel mit sich selbst zu tun."
69 Tage nach dem Relegations-Erfolg über Karlsruhe, der den Klassenerhalt bedeutete, scheint Labbadia den alten Schlendrian immer noch nicht ausgetrieben zu haben - auch wenn viele neue Spieler in der Startelf standen. "Jena hat über 120 Minuten leidenschaftlicher gekämpft, sie haben in ihrem Rahmen viele Dinge besser gemacht als wir."
Beim einst dreimaligen DDR-Meister dagegen regierte pure Glückseligkeit. Vor 13 800 Zuschauern begann der Europapokal-Finalist von 1981 aus Thüringen enorm mutig und übte überraschend schnell Druck aus. Belohnt wurde das Bemühen der furchtlosen Gastgeber mit einem sehenswerten Freistoßtreffer von Justin Gerlach aus 33 Metern.
Nach der Pause zogen die Gäste den Nutzen aus einer Fehlentscheidung des Schiedsrichtergespanns. Vor einer Hereingabe von Ivo Ilicevic war der Ball bereits im Tor-Aus, was aber ungeahndet blieb. Ivica Olic schaltete am schnellsten und zirkelte das Leder ins Tor (48). Die wütenden Reklamationen der Thüringer blieben ohne Erfolg.
Statt in Schockstarre zu verfallen, setzten die Jenaer den HSV weiter unter Druck. Einen Konter schloss Velimir Jovanovic (58.) zur erneuten Führung ab. FC-Keeper Raphael Koczor schien mit zwei Glanzparaden (85. und 90. + 3 ) die Sensation perfekt gemacht zu haben. Aber Michael Gregoritsch sorgte im Anschluss an einen Eckball direkt vor dem Abpfiff (90. + 4) für die Zusatzschicht.
"Um ihr Leben gelaufen"
Dieses Mal hatte der HSV das Glück jedoch nicht auf seiner Seite, denn Johannes Pieles köpfte - er verwandelte einen weiten Einwurf (106.) - den Viertligisten in die zweite Runde und sorgte für Jubelstürme im Jenaer Paradies. "Meine Spieler haben einen tollen Tag erwischt. Wie wir die Nackenschläge des zweimaligen Ausgleiches weggesteckt haben, verdient hohen Respekt", sagte Coach Uluc. "Wir sind alle glücklich, so einen Tag erlebt haben zu dürfen. Meine Spieler sind heute um ihr Leben gelaufen."
Als Zweitligist war Jena in der Saison 2007/08 nach Siegen gegen den VfB Stuttgart und den 1. FC Nürnberg bis ins Halbfinale gestürmt und schied dort erst bei Borussia Dortmund (0:3) aus. Anschließend kam der Verein nie wieder über die erste Runde hinaus.
"Man träumt immer von so einem Fußball-Märchen."
Volkan Uluc
Jena-Trainer
Ersehntes Lebenszeichen
DFB-POKAL Der Hallesche FC fliegt gegen Zweitligist Eintracht Braunschweig aus dem Wettbewerb. Warum der Auftritt des Köhler-Teams trotzdem Mut macht.
VON DANIEL GEORGE
HALLE/MZ - Für den braven Weg hatte Sören Bertram keine Zeit. Ein kurzer Blick auf den Platz, wo sich seine Mannschaft gerade in der Braunschweiger Hälfte eingenistet hatte. Und schon eilte der 24 Jahre alte Mittelfeldspieler des Halleschen FC zu seiner lang ersehnten Einwechslung. Nicht wie üblich an der Seitenlinie entlang, sondern abkürzend über das Feld. Noch im Lauf schmiss er sein grünes Leibchen ab. "Ich wollte unbedingt noch etwas bewegen", erklärte Bertram später. Eine Viertelstunde blieb ihm noch. "Aber die Zeit war leider zu knapp."
Unglücklich musste sich der Hallesche FC dem Zweitligisten aus Braunschweig am Samstagnachmittag in der ersten Runde des DFB-Pokals mit 0:1 geschlagen geben. Nach dem Schlusspfiff lagen niedergeschlagene Gastgeber überall auf dem Platz, die Gesichter in den Armen vergraben. Doch aller Ernüchterung zum Trotz: Dieses Spiel könnte für den weiteren Saisonverlauf ganz wichtig gewesen sein.
Zum ersten Mal in dieser Saison zeigte die Mannschaft in einem Pflichtspiel, dass sie lebt. Und das lag nicht unwesentlich an Sven Köhler. Der Trainer bewies den Mut, mit überraschenden Veränderungen neues Feuer zu entfachen. Sommerzugang Fabian Bredlow ersetzte Stammkeeper Lukas Königshofer. "Die anderen Wechsel waren dem geschuldet, dass wir zwei Spiele verloren haben und mich die Spieler, die aufgelaufen sind, in der Trainingswoche am meisten überzeugt haben."
"Geisteskranker" Gefühlsausbruch
Anders herum: Der schlechte Saisonstart forderte Konsequenzen. Die prominentesten Opfer hießen Tim Kruse und Sören Bertram. Der Kapitän und der Flügeltechniker kamen erst eine Viertelstunde vor Schluss ins Spiel - und traten dementsprechend angespornt auf, genau wie ihre Mannschaftskollegen. "Für uns war es einfacher als in einem Ligaspiel, wo du weißt, es geht um drei Punkte", sagte Bertram über den couragierten Auftritt des Drittligisten. "Wir hatten nichts zu verlieren, das hat man gesehen."
Der HFC nervte den Zweitligisten im Spielaufbau, erlaubte gefährliche Möglichkeiten äußerst selten. Im Angriff kombinierte und rannte Halle den Gegner vor 9 549 Zuschauern im Erdgas Sportpark - darunter 1 648 Gäste-Fans - phasenweise schwindelig. Chance um Chance, Abschluss um Abschluss - nur eines fehlte auch im dritten Saisonspiel: ein Tor. "Wir haben sehr viel richtig gemacht, nur das Entscheidende nicht", bilanzierte ein sichtlich enttäuschter Florian Brügmann im Kabinentrakt.
Über die Seite des ansonsten so starken Linksverteidigers war das Tor des Tages gefallen. Braunschweigs Jan Hochscheidt stand völlig frei und passte den Ball in der 67. Minute flach in den Strafraum, am langen Pfosten schob der eingewechselte Hendrick Zuck ein. Was dann folgte, war "geisteskrank", wie Torsten Lieberknecht seinen plötzlichen Gefühlsausbruch charakterisierte.
Nach dem Führungstreffer sprintete der Braunschweiger Trainer 15 Meter auf den Platz. Sekunden später erschrak er über sich selbst, entschuldigte sich umgehend beim Unparteiischen. Doch seine Aktion hatte einen Grund: "Natürlich freuen sich die Jungs, aber sie verlieren dann auch immer ein Stück weit die Konzentration. Das hatten wir vorher angesprochen, aber sie haben mir nicht zugehört." Der Jubel dauerte ihm zu lange - auch angesichts des Spielverlaufs.
HFC taktisch wie kämpferisch stark
Denn ehrlich gesagt: Seine Mannschaft hatte sich den Führungstreffer nicht wirklich verdient. Und nach dem Tor hätte Halle ausgleichen können. Sören Bertram scheiterte mit der besten von vielen Chancen aus vier Metern an Eintracht-Keeper Rafal Gikiewicz. Der HFC wirbelte offensiv in seinem 4-2-3-1-System, defensiv standen zwei Viererketten vorbildlich diszipliniert.
Aber über Taktik wollte sich Sven Köhler nach dem Pokal-Aus nicht unterhalten. Viel wichtiger war ihm die Leidenschaft. "Wir haben mit einer unheimlich hohen Bereitschaft gespielt. Entscheidend ist immer, mit welcher Körpersprache du auf dem Platz stehst."
Oder im Fall von Sören Bertram: auf den Platz rennst.
Mehr zum Halleschen FC unter:
www.mz-web.de/hfc
"Ich wollte unbedingt noch etwas bewegen."
Sören Bertram über seine Abkürzung zur Einwechslung
SITUATION
Drei Debüts
Gleich drei HFC-Akteure kamen gegen Braunschweig zu ihren ersten Pflichtspiel-Minuten in dieser Saison. Neben Torwart Fabian Bredlow stand auch Dominic Rau erstmals auf dem Platz. Der 24 Jahre alte Defensivmann ersetzte Marcel Baude auf der rechten Abwehrseite.
Auch Max Jansen durfte erstmals in dieser Saison ran. Ein Muskelfaserriss im Oberschenkel hatte ihn fast die komplette Vorbereitung über außer Gefecht gesetzt. Gegen Braunschweig wurde er eine Viertelstunde vor Schluss eingewechselt. Es waren seine ersten Minuten überhaupt im DFB-Pokal.
Bereits am Mittwoch steht für den HFC das nächste Pokalspiel an: Beim Landesligisten Farnstädt beginnt für den Drittligisten die Mission Titelverteidigung im Landespokal-Wettbewerb.
Quelle:MZ